Bist du wirklich frei? Oder nur auf der Flucht?

Abhängig waren wir alle mal. Von unseren Eltern, die unser Überleben sicherten.  Von unseren Lehrern, die uns mit Zensuren für die Zukunft einstufen. Von den Chefs, die uns den ersten Job gaben.

Diese existenzielle Abhängigkeit haben wir direkt aus dem Elternhaus in unsere ersten Beziehungen mitgenommen: wir haben als verliebte Teenager geglaubt, ohne IHN oder SIE einfach nicht leben zu können und hätten schier sterben können vor Traurigkeit, wenn die Liebesgeschichte zu Ende ist.

Irgendwann sind wir erwachsen geworden und haben gemerkt, dass Abhängigkeit kein guter Modus für menschliche Beziehungen ist – und vor allem überhaupt nicht notwendig. Liebe ist schließlich freiwillig. Und Chefs freuen sich auch mehr über Mitarbeiter, die gerne für sie arbeiten.

Im Grunde könnten wir an dieser Stelle loslassen und uns freiwillig begegnen. Tun wir aber nicht. Denn es gibt auch was Tolles in dem Spiel. Es geht um Macht und Ohnmacht, um Kontrolle und Unterwerfung, um Bedingungen und Konsequenzen. Und darum, sicher zu wissen, dass man geliebt / gelobt / niemals verlassen wird.

Hier kommt der Test: Bist du noch abhängig?

Testfrage 1:
Machst du deine Entscheidungen von anderen abhängig? Wartest du, bevor du tust, was du möchtest? Darauf, dass dein Chef dir Sympathie oder ein Spitzengehalt bekundet? Darauf, dass dein Partner sagt, was er im Restaurant zu essen bestellen will? Oder sich gleichwertig um die Kinder kümmert? Darauf, dass genug Wäsche da ist, um die Maschine anzuwerfen, oder genug Geld, um einen Urlaub zu buchen? Oder (das ist meine Spezialität) darauf, dass dein Vater/deine Mutter/die Nachbarn dich loben?

Egal, was es ist, ob groß und wichtig oder klein und unbedeutend: wenn du nicht einfach machst, was du willst, dann bist du bereits abhängig.

Testfrage 2:
Hältst du große Stücke auf deine Unabhängigkeit? Betonst du immer wieder, dass du frei sein musst, dass du dich nicht von anderen einsperren oder dir befehlen lässt? Darauf, dass man sich nicht gegenseitig brauchen sollte, weil es einschränkt? Das Rebellentum die einzig wahre Religion ist?

Dann bist du ebenfalls abhängig. Denn du bist noch auf der Flucht vor einer früheren Abhängigkeit, die sehr schmerzhaft war. Die dir auf keinen Fall wieder zustoßen soll. Diese angeblich „totale Unabhängigkeit“ führt direkt in eine Sackgasse. Sie ist erreicht, wenn dein Leben gleichförmig ist und du innerlich erstarrst. Oder wie Chuck Spezzano sagt: „Die vollkommene Unabhängigkeit ist eine Todeszone“.

Testfrage 3:
Bist du im Grunde unabhängig, fühlst dich aber allein gelassen? Hast du das Gefühl, du wärest zwangshalber abhängig – vom Staat, von deinem Arbeitgeber, von deinem Partner? Bist du – egal aus welchen Gründen – nicht in der Lage, wirklich für dich und dein eigenes Leben durchzustarten?

Dann steckst du in einer alten Abhängigkeit fest. Schau dir an, auf wen du immer mal wieder wütend wirst. Egal ob es Menschen sind (deine Eltern, Ex-Partner, Freunde und Bekannte) oder etwas Abstraktes wie „das System“, ein Amt, eine Einrichtung, eine Funktion. Irgend etwas in dir wartet auf eine bestimmte Sache, die aus dieser Richtung kommen soll. Du bleibst in einer Erwartung stecken und lähmst dich damit selbst. Das Beste, was du tun kannst, ist, diesem Gegenüber etwas von dir zu geben und seine Bedürftigkeit zu spüren (ja, auch Systeme haben Bedürfnisse).

Wenn du wirklich vollkommen unabhängig bist, dann bist du noch in derselben Sekunde bereit und in der Lage, dich für deine eigenen Ziele einzusetzen. Du bist außerdem bereit für Kooperationen, für ein partnerschaftliches Miteinander auf Augenhöhe. Für ein gegenseitiges Geben und Nehmen ohne gegenseitige Abhängigkeit. Ohne Angst, ohne Brauchen und Gebrauchtwerden, ohne Verschleierung der Tatsachen oder Weglassen der ganzen Wahrheit. Wenn du alles, was du brauchst, denkst und fühlst einfach sagen kannst, und vom anderen annehmen, und ihr dann ohne jede Wertung eine Lösung finden könnt, die beiden ermöglicht, ihre Bedürfnisse erfüllt zu bekommen. Egal ob es um Partner, Kollegen, Ämter, Kinder, Eltern, Systeme und alle Menschen dazwischen geht.

Das ist dann keine Unabhängigkeit, sondern Interdependenz. Und nur die bringt wirklich Freiheit.