Von der Angst, durchzustarten

Wer gern mal einen relativ gefahrlosen Ort geballer Angst erleben möchte, der sollte sich am ersten Schultag an eine Grundschule stellen. Die Kinder fürchten sich vor der Schule, die Lehrer vor der neuen Klasse und die Eltern davor, dass ihre Kinder hier kreuzunglücklich werden könnten. Allen drei steht eine große Veränderung bevor, etwas Unbekanntes, Neues, das sich ihrer Kontrolle entzieht.

Genau so geht es Menschen, die vor dem nächsten großen Schritt ins Unbekannte stehen. Alles ist bereit, alles ist gedacht, der Weg ist, soweit möglich, klar.

Und genau jetzt hat die Angst ihren großen Auftritt (ta-da!): Was, wenn es misslingt? Was wenn ich mich blamiere? Was werden die anderen sagen? Oder was, wenn es klappt? Wird mich der Erfolg verändern? Unfrei machen? Meine Steuern ins Überirdische katapultieren? Werde ich am Ende von allen gehasst werden?

Im Gegensatz zu allen anderen Emotionen hilft es bei Angst nicht weiter, sich Zeit zu nehmen und sie ausführlich zu spüren, oder sie mit anderen zu teilen. Denn erstens wird sie größer, je mehr Beachtung sie erfährt, und zweitens ist sie ansteckend. Jede Wette: wenn Sie an einem ersten Schultag zehn Minuten vor einer Grundschule rumstehen, haben sie auch Angst. So wie man anfängt, sich um seine Gesundheit zu sorgen, wenn man einige Stunden in einer Notaufnahme herumgesessen hat. Das ist alles reine Angst-Ansteckung.

Hier ist also etwas ganz anderes gefragt, nämlich Nüchternheit. Die Feststellung „Ich habe Angst“ hilft nur dann weiter, wenn ich anschließend ruhig genug bleiben kann, um mir auch die Frage zu stellen: „Wovor denn genau?“ (vor Demütigung? Scheitern? Einsamkeit? Unfähigkeit?). Und dann, genau so nüchtern, mal zu schauen, was denn ganz konkret wirklich passieren würde. Jemand zeigt mit dem Finger auf mich? Wer denn? Würde mir das wirklich etwas ausmachen? Was könnte ich dann erwidern?

Sagen wir mal, ich hätte Angst vor Fehlern. Okay. Ich such mir also den falschen Markt. Oder Mann. Oder Vertriebspartner. Was passiert dann ganz konkret? Woran merke ich es? Wie komme ich aus der Sache wieder raus? Wär das wirklich eine solche Katastrophe?

Und dann: einfach den ersten kleinen Schritt machen. Schlotternd vielleicht. Aber immerhin. Also zum Beispiel mal die eigene Homepage mitsamt Angebot online stellen. Und gucken, was passiert. Nichts? Prima. Dann den nächsten Schritt. VIelleicht mal einen potenziellen Kunden kontaktieren. Er lacht nicht? Ausgezeichnet. Dann vielleicht mal ein Treffen anregen. Ein konkretes Angebot schicken. Einen praktischen Vorschlag machen.

Schon drei Schritte ohne Katastrophe.

Das ist übrigens ein guter Zeitpunkt, um sich mal an alte Ängste zu erinnern. Zum Beispiel, dass der Herd/das Bügeleisen an war, als man zum Flughafen gefahren ist, und die Bude abfackelt, während man am Strand liegt. Und? Ist es passiert?

Wie sieht es denn nun aus mit dem Wahrheitsgehalt der Angst und ihrer düsteren Prophezeiungen? Hatte sie immer recht? Ist alles Befürchtete immer eingetreten? Oder gibt es da einen (ziemlich großen) Raum für Zweifel, nachdem die gemessene Ereignis-Tritt-Ein-Wahrscheinlichkeit über den gemessenen Zeitraum Ihres gesamten Lebens und all Ihrer Ängste bei unter 5% liegt?

A propos nüchtern: Alkohol und Süßigkeiten sind besonders beliebte Anti-Angst-Drogen, die allerdings langfristig die Angst-Empfänglichkeit sogar steigern. Ich bin gerade in der zweiten alkoholfreien Woche und hab mich immerhin getraut, diesen Artikel zu schreiben. Vielleicht sitz ich nächste Woche schon am Buch. Oder am Bordeaux. Am liebsten aber an beidem.